Tierärztemangel: «Das Problem ist sehr ernst»
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Tierärztemangel: «Das Problem ist sehr ernst»

In der Schweiz fehlt es an Veterinärinnen und Veterinären. Olivier Glardon, Präsident der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte, sagt, die Situation sei prekär. Und dies, obwohl beim Nachwuchs grosses Interesse vorhanden sei.

Schulen, Spitäler, Gastronomie – wo du auch hinschaust: Es fehlt an Personal. Vermutlich ist dir das in der Tierarztpraxis noch wenig aufgefallen. Doch spätestens hinter geschlossenen Türen wird klar: Die Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte laufen auf dem Zahnfleisch. Es braucht dringend mehr von ihnen. Dafür setzen sich Verbände und Parteien mit politischen Vorstössen ein. Doch der Bund sieht kein akutes Problem. Ganz anders Olivier Glardon, Präsident der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte, mit dem ich telefoniert habe.

Olivier Glardon ist oberster Schweizer Tierarzt. Die Entwicklung im Veterinärwesen bereitet ihm Sorgen.
Olivier Glardon ist oberster Schweizer Tierarzt. Die Entwicklung im Veterinärwesen bereitet ihm Sorgen.
Quelle: Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte

Olivier Glardon, wie dramatisch ist der Mangel an Tierärzten und Tierärztinnen in der Schweiz?
Das Problem ist sehr ernst. Tierärztinnen und Tierärzte kommen vielfach an ihre Belastungsgrenze, damit unsere Haus- und Nutztiere noch angemessen behandelt werden können. Der Bogen ist definitiv überspannt.

Was sind die Gründe?
Der Bund hat den Fachkräftemangel im Veterinärbereich in den letzten Jahren nicht erkannt. Er deckte das Bedürfnis mit ausländischen Arbeitnehmenden und dachte, das reicht.

Wie viele sind das im Verhältnis zu den Schweizer Absolvierenden in den Veterinärwissenschaften?
Jedes Jahr werden 180 bis 200 Tierärztinnen und Tierärzte aus der EU in die Schweiz geholt. Nur 120 Schweizer Studierende schliessen jährlich ihr Studium ab. Das Verhältnis ist also etwa 60 zu 40. Hinzu kommt, dass viele Tierärztinnen und Tierärzte der geburtenstarken Generation nun in Pension gehen.

Können diese nicht ersetzt werden?
Nicht eins zu eins. Viele junge Tierärztinnen und Tierärzte wollen nicht mehr Vollzeit arbeiten, sondern Teilzeit. Wir müssten die Vollzeitstellen zurzeit mit rund 1,4 Mal so vielen Teilzeitstellen ersetzen. Inländische Absolventinnen und Absolventen allein können dieses Verhältnis nicht decken.

Wieso eigentlich? Ist der Beruf nicht mehr attraktiv?
Im Gegenteil. Pro Jahr interessieren sich rund 600 Schweizer Studierende für Veterinärwissenschaften. 450 absolvieren den Eintrittstest. Von diesen werden aber nur 180 zum Studium zugelassen. Und davon werden nach dem ersten Jahr die 150 besten ausgewählt.

Müsste man also die Eintrittsschwelle senken?
Aus unserer Sicht, ja. Die Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern teilt diese Ansicht jedoch nicht. Sie befürchtet, dass die Qualität darunter leidet.

Sie nicht?
Man kann sich fragen, ob nicht eher die Qualität abnimmt, wenn man immer mehr ausländische Tierärztinnen und Tierärzte ins Land holen muss. Dort hat man viel weniger Kontrolle über die Standards.

Wie lässt sich der Tierärztemangel sonst noch erklären?
Der Beruf ist viel technischer geworden, die Patientinnen und Patienten verlangen mehr und aufwändigere Behandlungen und die Krankheiten sind komplexer. Das macht den Berufseinstieg für Absolventinnen und Absolventen nicht einfach. Viele beginnen gar nicht erst, klinisch zu arbeiten. Sie bleiben an der Universität oder gehen in die Forschung oder Industrie.

Jungtierärztinnen und -tierärzten fällt der Berufseinstieg heutzutage besonders schwer.
Jungtierärztinnen und -tierärzten fällt der Berufseinstieg heutzutage besonders schwer.
Quelle: Shutterstock/Gorodenkoff

Wäre der Tierarztberuf überhaupt mit den Bedürfnissen des Nachwuchses deckbar?
Ja. Doch dazu benötigten wir neue und flexiblere Arbeitsmodelle.

Zum Beispiel?
Die Zusammenarbeit innerhalb der Praxis müsste angepasst werden. Tierärztinnen und Tierärzte sollten nur noch Veterinärarbeit leisten. Andere Aufgaben müssten besser delegiert werden können.

An wen?
Es bräuchte nebst Praxisassistentinnen und -assistenten auch neue Berufsbilder in den Tierarztpraxen. Zum Beispiel Praxismanagerinnen und -manager, Agraringenieurinnen und -ingenieure oder spezialisierte Tiermedizinische Assistentinnen und Assistenten in den Bereichen Nutz- und Kleintiere.

Zahlen dazu, wo am meisten Tierärztinnen und -ärzte fehlen, gibt es keine. Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen, zeichnen sich in allen Bereichen der Veterinärmedizin ab. Insbesondere in Rand- und Bergregionen sind die tiermedizinische Grundversorgung und der flächendeckende Notfalldienst schwer zu gewährleisten.

Wie setzen Sie sich als Tierärzteverbund ein?
Wir haben 2023 zahlreichen Tierärztinnen und Tierärzten gut laufende Praxen vorgestellt, an denen sie sich orientieren können. Auch möchten wir die Studierendenzahl erhöhen. Hier können wir zum Teil mit einer politischen Unterstützung rechnen. Wir planen, Jungtierärztinnen und -tierärzte durch Mentorings und Coachings beim Berufseinstieg zu unterstützen. Auch sind wir mit der Vetsuisse-Fakultät daran, die Berufsinformationen anzupassen. So wissen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten genauer, was sie später erwartet. Insgesamt haben wir 30 Massnahmen entwickelt.

Was erwarten Sie vom Bund?
Dass er seine Pflicht wahrnimmt. Wenn er sich für verbesserte Tierschutzmassnahmen und Seuchenprävention in der Schweiz einsetzt, muss er auch die inländischen Tierärztinnen und Tierärzte unterstützen. Das Gleiche gilt für die Qualitätssicherung der Berufsausübung. Sonst bricht das System bald zusammen.

Was hältst du vom Tierärztemangel? Spürst du etwas davon oder kennst betroffene Tierärztinnen und Tierärzte? Verrate es der Community und mir in einem Kommentar.

Titelbild: Shutterstock/Gorodenkoff

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Ich mag alles, was vier Beine und Wurzeln hat. Zwischen Buchseiten blicke ich in menschliche Abgründe – und an Berge äusserst ungern: Die verdecken nur die Aussicht aufs Meer. Frische Luft gibt's auch auf Leuchttürmen.


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